Gott ist kein Erfüllungsgehilfe
Gebete in der Bibel sind völlig unterschiedlich und haben doch etwas gemeinsam
Von Andrea Seeger, Redakteurin Evangelische Sonntags-Zeitung
In Kreuzworträtseln fragen die Macher gerne mal nach einem Wort mit fünf Buchstaben für »Mit einem Gott reden«. Die Antwort lautet beten. So einfach ist das. Jedenfalls im Rätsel. Wie aber sieht es inhaltlich aus mit dem Beten? Was sagt die Bibel dazu?
Es gibt einen wunderbaren Film aus dem Jahr 2014, der von der Kraft des Gebetes zeugt. Eine Unternehmensberaterin und zwei ihrer Kollegen touren durch die ganze Welt, sorgen skrupellos für Entlassungen und steigende Gewinne der Firmen. »Zeit der Kannibalen« heißt der Film. Die drei erfüllen gerade einen Auftrag in einem fiktiven Bürgerkriegsland. Rebellen überfallen das Hotel, in dem sie untergebracht sind. Ihnen droht der Tod. Sie versuchen alles Mögliche, um sich zu retten. Schließlich sagt der eine: »Jetzt hilft nur noch beten. Weiß jemand ein Gebet?« Schweigen. Niemand kennt eins.
Kein Trost, nirgends. Wohl dem, der ein Gebet sprechen kann. Es hilft in Not und Leid. Und es schenkt Worte der Dankbarkeit, wenn man glücklich ist. Das Vaterunser, das Christen weltweit beten, ist ein gutes Beispiel dafür. Es stammt aus der Bergpredigt (Matthäus 6,9-13; Parallelstelle in der Feldrede Lukas 11,2-4). Ein Jünger bittet Jesus: »Herr, lehre uns beten.« Jesus antwortet: »Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern. Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel…« Die Dramaturgie des Vaterunsers lässt sich als Muster lesen, eine Art Gebetsmodell, eines unter vielen möglichen.
Beten fängt mit Loben an
Beten fängt mit Loben an: »Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name.« Dann bitten die Beter darum, dass sich Gottes Anliegen auf Erden erfüllen mögen: »Dein Reich komme. Dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden.« Wohlgemerkt: Geschehen soll Gottes Wille – nicht unbedingt das, was der oder die Beterin will und sich wünscht. Beim Beten stellt man sich in einen Kontext, der weiter und größer ist als man selbst.
Es folgt eine direkte, konkrete Bitte: »Unser tägliches Brot gib uns heute.« Keine Scheu, Gott zu sagen, was man existenziell braucht! Dann kommen Beichte und Vergebung: »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.« Die Menschen bekennen ihre Sünden, ihre Schuld. Wer sich bewusst macht, dass er und sie auf Vergebung angewiesen ist, wird auch anderen verzeihen.
In Italien ändert die katholische Kirche das Vaterunser
Nun folgt eine Bitte, an der man kräftig Anstoß nehmen kann: »Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.« Verführt Gott Menschen zum Bösen? Papst Franziskus stellt das in Frage. In Italien ändert die katholische Kirche darum ab November das Vaterunser. »Überlasse uns nicht der Versuchung« soll es künftig heißen. Doch das verschiebt das Problem lediglich. Gott ist zwar dann nicht mehr der, der aktiv verführt. Aber: Warum lässt Gott zu, dass Menschen dem Bösen verfallen?
Martin Luther löste dieses Problem im Kleinen Katechismus anders. »Gott versucht niemand«, stellte er fest und fährt fort: »Wir bitten, dass der Teufel uns nicht verführe.« Nun ist es also der Teufel als finstere Gegenmacht zu Gott? Auch das lässt Fragen offen. »Führe uns nicht in Versuchung!« Die Bitte drückt das Wissen aus: Ich kann das Gute wollen, aber das Schlechte tun. Gott behüte mich vor dem Bösen und helfe mir zum Guten.
Das Vaterunser schließt mit einem erneuten Lob Gottes: »Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen.« Amen ist Hebräisch und bedeutet so viel wie »So soll es sein!« Es lässt sich übersetzen mit »sich fest machen in, sich verankern in, sich ausrichten auf Gott«.
Gott ist kein Wunschautomat
Gott hört Gebete und ermutigt zum Beten. »Bittet, so wird euch gegeben«, sagt Jesus in der Bergpredigt (Matthäus 7,7). Die Menschen wenden sich an Gott. Mit einem inneren Frieden überlassen sie es ihm, ihre Anliegen aufzunehmen oder nicht. Gott ist kein Wunschautomat, kein Erfüllungsgehilfe menschlicher Wünsche. Vielleicht müssten sie einfach mehr bitten, so wie es der Schreiber des Jakobusbriefes ausdrückt: »Ihr habt nichts, weil ihr nicht bittet.« (Jakobus 4,2)
Dazu gibt es folgende Geschichte: Ein Engel führt einen Menschen durch eine riesige Lagerhalle im Himmel. Schachteln und Auslagen türmen sich bis zur Decke. Nachdem sie alles angesehen haben, fragt der Mensch den Engel, was diese vielen Schachteln zu bedeuten haben und weshalb sie hier seien. Der Engel antwortet: »Das sind die Antworten auf Gebete, die Christen nie gebetet haben.«
Entscheidend ist die innere Einstellung des Beters. Sie muss aufrichtig sein. Im Jakobusbrief heißt es weiter: »Ihr bittet und empfangt’s nicht, weil ihr in übler Absicht bittet.« Beten hilft, sich über sich selbst klar zu werden: Warum bitte ich um etwas? Was geht in mir vor und bewegt mich?
Der Kopf wird frei für neue Gedanken
Menschen zu allen Zeiten machen die Erfahrung: Wer ausspricht, was ihn bedrückt, für den wird die Last weniger schwer, das Herz leichter. Wer sich »von guten Mächten wunderbar geborgen« (Dietrich Bonhoeffer) glaubt und in diesem Vertrauen betet, findet Ruhe und Gelassenheit auch in schwierigen Situationen. Wer vor einer schweren Aufgabe um Hilfe betet, unterbricht das Kreisen der Gedanken um Aufgabe und Lösungswege. Der Kopf wird frei für neue Gedanken. Beten stärkt.
Wenn Menschen ihre Anliegen vor Gott gebracht haben, wird »der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, eure Herzen und Sinne in Christus Jesus bewahren« (Philipper 4,7). Allein dadurch, dass Menschen in den Dialog mit Gott treten, verändert sich ihre Haltung. Beten bedeutet auch, sich zu sammeln, nachzudenken, Klarheit zu gewinnen über die Situation, auch, Wünsche zu äußern.
Es gibt keine Bestimmungen
Das Gebet eines Christen ist ein freiwilliges Gebet, niemals ein Pflichtgebet. Es gibt keine Anweisungen, wann und wie oft ein Christ zu beten habe. Es kommt auch nicht auf korrekt formulierte Worte an. In der Bibel finden sich fertige Gebetstexte wie zum Beispiel Jesu Gebete oder die Psalmen. Gleichberechtigt und gleichwertig steht das freie Gebet. Es gibt keine Bestimmungen, die alle Christen befolgen müssten. Jeder, der beten möchte, kann sich jederzeit und überall mit allen Anliegen an Gott wenden.
Es gibt auch keine vorgeschriebenen Gebetszeiten, keine Anzahl der Gebete, keine bestimmte Kleidung, keine Waschungen, weder eine vorgeschriebene Gebetsform noch eine Sprache, in der gebetet werden muss. Wie die Gesten beim Beten aussehen, ist ebenfalls unterschiedlich. Die Bibel erwähnt verschiedene Gebetshaltungen: im Stehen (1. Samuel 1,26; Markus 11,25), auf Knien (Daniel 6,11; Lukas 22,41) und im Niederfallen oder Niederwerfen (5. Mose 9,25). Beten kann der Mensch auch im Laufen. Alles ist möglich.
Und das nicht nur allein und für sich, sondern zusammen mit anderen und für andere so wie in Fürbitten. In Gottesdiensten bringt die Gemeinde ihre Welt vor Gott zur Sprache – und betet für Menschen in Not und in anderen Situationen, in denen Gottes Nähe und Hilfe nötig ist. Fürbitte kann bei den Betenden Kraft und Bereitschaft wecken, sich für andere über das Gebet hinaus zu engagieren. Wer für andere betet, nimmt an ihrem Leiden teil und teilt mit ihnen, was er kann oder hat. Dadurch kann die Fürbitte gesellschaftspolitische Kraft entfalten.
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