„In Gottes Ohr“
Das Gebet der Fremden, Witwen und Waisen in Zeiten der Not
Von Dr. Thorsten Latzel, Evangelische Akademie Frankfurt aus "Queres aus der Quarantäne", Teil 6
„Dein Wort in Gottes Ohr!“ Die Redewendung hat eine theologisch bemerkenswerte Entwicklung erfahren. Früher war sie einmal Ausdruck eines unmittelbaren Erfüllungswunsches und der unbedingten Zustimmung zu dem, was ein anderer gesagt hat: „Gott möge Dich erhören. Genauso soll es geschehen.“ Mit der Zeit hat sich jedoch ihr Sinn verkehrt. Heute steht sie stattdessen für die Skepsis gegenüber allzu großen Hoffnungen oder frommen Wünschen. Im Sinne von: „Wer’s glaubt, wird selig.“ oder: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Eine Haltung, die manche gerade in Krisenzeiten befällt.
„Dein Wort in Gottes Ohr!“ In Bezug auf das Gebet der Fremden, Witwen und Waisen - die auch in Zeiten von Seuchen immer schon besonders bedroht waren und sind - wohnt dem Satz noch einmal eine besondere Bedeutung inne: eine radikale Institutionen-Kritik. Ein eindrückliches Beispiel ist dafür etwa der höchst lesenswerte Text Sirach 35,16-22: Keine Vermittlungsinstanz, keine Hierarchie, kein institutioneller Filter. Stattdessen die „Gott-Unmittelbarkeit der Geringen“. Das ist hochgefährlich für alle hochgestellten oder privilegierten Personen, die ihre Macht gegenüber den Schwachen missbrauchen. Denn sie ignorieren die Verbundenheit des Schöpfers mit jedem seiner Geschöpfe. Gott nimmt das Schicksal der Witwen und Waisen persönlich.
„Dein Wort in Gottes Ohr!“ Dies ist die Ur-Erfahrung des Volkes Israel schlechthin, dass Gott das Schreien der Unterdrückten hört und handelt. Am Anfang des Exodus, der ganzen Geschichte Israels steht nicht ein abstraktes Wissen um die Existenz Gottes („dass Gott ist“), sondern die Erfahrung des Erhört-Werdens („dass Gott hört“). Dass Gott das Schreien der Geringen hört, ist der theologische wie sozialrevolutionäre cantus firmus des Alten Testaments (vgl. 2. Mose 2,23; 3,7-10; 22,20-25). Deswegen ist eben auch die Unterdrückung von Fremden, Witwen und Waisen die soziale Ursünde schlechthin: weil das Volk Israel als die Gemeinschaft der im Exodus Erhörten damit seine eigene Identität aufgibt.
„Dein Wort in Gottes Ohr!“ Für verschiedene neuzeitliche Denker ist die Tatsache, dass die Unterdrückten jedoch allzu oft nicht erfahren, dass sie erhört werden, ein Hinweis auf eine notwendige Existenz Gottes. Nach Kant etwa braucht es eine ausgleichende Instanz nach dem Tod - als Postulat der praktischen Vernunft. Oder bei dem früheren marxistischen Frankfurter Philosophen Max Horkheimer klingt das so: „Der Gedanke, dass die Gebete der Verfolgten in höchster Not, dass die der Unschuldigen, die ohne Aufklärung ihrer Sache sterben müssen, dass die letzten Hoffnungen auf eine übermenschliche Instanz kein Ziel erreichen und dass die Nacht, die kein menschliches Licht erhellt, auch von keinem göttlichen durchdrungen wird, ist ungeheuerlich.“ (ders., Kritische Theorie, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1968, S. 372)
„Dein Wort in Gottes Ohr!“ Der Ur-Erfahrung des Erhört-Werdens korrespondiert das Urbekenntnis des frommen Israeliten, seinerseits auf diesen hörenden Gott zu hören - ausgedrückt im Schem‘a Jisrael: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR alleine. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ (5. Mose 6,4-5) Gleichsam: „Gottes Wort in Dein Ohr!“ Es geht um eine Beziehung wechselseitiger Sensibilität, in der Gott vom Leiden der Geringen berührt und bewegt wird und der Glaubende sich seinerseits von diesem sensiblen Gott in seinem ganzen Sein (Herz, Seele, Gemüt) berühren und bewegen lässt.
„Dein Wort in Gottes Ohr!“ Die Gebets-Kommunikation wird in dem eingangs erwähnten Text aus dem Buch Jesus Sirach geradezu räumlich-physisch konkret vorgestellt: Das Gebet dringt bis zu den Wolken, durchdringt sie, muss dabei einen raumzeitlichen Weg zurücklegen. Darin spiegelt sich metaphorisch die Erfahrung der verzögerten Erhörung - bis hin zu ihrem völligen Ausbleiben. Auch wenn dies hier nicht expliziert wird, so ist die Notwendigkeit, die Gewissheit der Erhörung so ausführlich zu betonen, wohl ein Indiz für genau diese Anfechtung, dass sich die Erhörung verzögert oder ausbleibt. Die Wolken als Inbegriff der nicht-menschlichen, physisch-metaphysischen Widerstände.
„Dein Wort in Gottes Ohr!“ Immer wieder wird in der Bibel über „Gottes Ohr-Sein für die Schwächsten“ nachgedacht. Etwa in dem Gleichnis von der „bittenden Witwe“ (Lk 18,1-8). In der Geschichte wird die Frage „letztinstanzlicher Erhörungsgewissheit“ behandelt, die Frage, wie man mit der Unsicherheit umgehen kann, ob das eigene Gebet tatsächlich erhört wird. Als Vorbild dient dabei der Umgang einer Witwe mit einem Richter, der weder Gott noch Menschen fürchtet. Der Richter erhört die drängende Witwe wegen der Mühe, die sie ihm bereitet, und aus Sorge vor einem öffentlichen Eklat. Gott wiederum tut dies - so das Argument a minore ad maius, vom Kleineren zum Großen - noch vielmehr einfach, weil die Unterdrückten seine Auserwählten sind. Doch auch hier spiegelt sich in der Vergewisserung „er wird ihnen Recht schaffen in Kürze“ die Erfahrung der Anfechtung wider. Die Lösung kann m.E. nicht darin liegen, den mangelnden Glauben oder die Nachlässigkeit der Betenden zu beanstanden (so tendenziell am Ende des Gleichnisses). Damit würde - als Ausdruck eines theologischen Zynismus - den Fremden, Witwen und Waisen noch eine geistliche Mitschuld an ihrer Lage aufgebürdet. Eine Lösung liegt für mich in dem innergeschichtlich unabgeschlossenen Prozess, in dem Gott eben noch nicht „alles in allem“ ist (1. Kor 15,28) und die Erhörung vieler Gebete entsprechend noch aussteht.
„Dein Wort in Gottes Ohr!“ Bis einmal die letzte Bitte der Unterdrückten von Gott erhört sein wird, gilt es daher, für einander zum Fürsprecher und zum Ohr zu werden - und so an Gottes Sensibilität für die Geringen teilzuhaben. Das hilft, auch gegen die religiöse Bauchnabel-Fixiertheit mancher Formen von Frömmigkeit, in denen Gott zum Garant meines je eigenen persönlichen Glücklichseins gemacht wird. Gott hört das Gebet der Fremden, Witwen und Waisen. Darum sollten wir es auch tun. Gerade in Zeiten, in denen sie vor kollektiver Sorge und Angst vor den Viren leicht aus dem Blick geraten.
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„... dass Du hörst.“
Es gibt Zeiten, Gott,
da weiß ich nicht,
wie Du bist, ob Du bist,
da ist es nur wichtig,
dass Du hörst.
Darauf hoffe ich,
wenn alles fraglich wird,
wenn die Welt, das Leben, ich selber
auf einmal verrücktspiele:
dass Du hörst.
Dass Du hörst
meine Sorgen und Ängste,
meine sprachlosen Klagen
und das Gebet
aller Fremden, Witwen und Waisen dieser Welt.
Dass Du sie hörst,
selbst dann, wenn sie verstummen,
wenn ihr Leid die Sprache verschlägt -
ihnen, anderen, mir.
Du lässt es an Dich heran,
wenn niemand es mehr hören kann.
Weil Du sie hörst,
will ich nicht schweigen,
will ich für sie, von ihnen, mit ihnen sprechen
und selbst zum Ohr werden
wie Du.
Queres aus der Quarantäne
Alltag in Zeiten des Coronavirus: Wie wirkt sich die Covid-19-Pandemie auf unsere Gesellschaft aus? Was bedeutet es, mit Vorsichtsmaßnahmen zu leben? Akademiedirektor Thorsten Latzel verfasst zu diesen Leitfragen theologische Impulse, die die Ausnahmesituation im Frühjahr 2020 spiegeln.