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Gott lässt mit sich reden

Einsichten mit dem Vaterunser

Von Stefan Alkier

© GettyImages / thanasus

Beten versteht sich nicht von selbst. Beten ist eingebettet in ein Verständnis der Welt als Ganze und nicht nur das: Der Akt des Betens praktiziert ein Selbstverständnis der Betenden, indem es ihn und sie in ein Verhältnis setzt zu dem, der im Gebet angerufen wird.

Beten ist ein Beziehungsgeschehen, aber keines auf Augenhöhe: Der Mensch betet zu Gott, aber Gott betet nicht zu den Menschen. Gott hingegen offenbart sich den Menschen, der Mensch offenbart sich aber nicht Gott, der ihn ja schon immer erkannt hat. Beten ist keine reziproke Kommunikation, kein Austausch gleicher Partner. Vielleicht ist das ein Grund, warum das tägliche Gebet weitgehend aus dem Alltag unserer kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft der Machbarkeit verschwunden ist. Wer am Morgen Gott um das Gelingen oder das Behütetsein im anstehenden Tagesgeschehen bittet, beim Essen für die zu genießenden Gaben und am Abend für das Erleben des vergangenen Tages dankt und um das Überleben in der Nacht bittet, versteht seine Existenz nicht aus seiner Eigenmächtigkeit heraus. Er begreift sich vielmehr aus seiner dauerhaften Angewiesenheit auf den, zu dem er in seinem Gebet spricht. Beten praktiziert die Einsicht in die Grenzen des Machbaren, in die eigene Begrenztheit, in die dauerhafte Gefährdung durch unvorhersehbare, unberechenbare Ereignisse.

Beten mit dem Vaterunser protzt nicht. Es ruft nicht aus: »Yes, we can!« oder »Wir schaffen das!« Es bittet um das Gelingen der großen und kleinen Aufgaben und Herausforderungen im Wissen darum, dass das Gelingen nicht allein von der eigenen Kraft abhängig ist, sondern der eigene Wille eben längst nicht alles vermag, was er sich vorgenommen hat und daher stets scheitern kann.

Beten mit dem Vaterunser rühmt sich nicht selbst. Es kreist nicht um den eigenen Namen, wie es die vielen großen und kleinen Trumps dieser Welt so unverschämt dümmlich zelebrieren. Es weiß vielmehr um die Vergänglichkeit menschlichen Ruhms und irdischen Reichtums.

Beten mit dem Vaterunser verdrängt die eigenen Mängel und Versuchungen nicht. So weiß es um die fast unwiderstehliche Anziehungskraft des Begehrten, ganz gleichgültig, worum es sich bei dem Objekt der Begierde handelt. Es weiß auch um die eigene Schuld, ganz egal, ob sie aus einer Unrechtstat oder aus der Unterlassung eines notwendigen Handelns resultierte.

Beten mit dem Vaterunser malt sich die Welt nicht rosarot. Beten weiß um die Realität des Bösen, sei es strukturelle, gemeinschaftliche oder individuelle Gewalt, die sie hervorbringt. Beten verdrängt auch Feindschaft nicht, aber es ist bereit zu vergeben und um Vergebung zu bitten.

Beten mit dem Vaterunser lässt sich nicht durch die Rede von vermeintlicher Alternativlosigkeit beeindrucken. Mit der Sehnsucht nach dem kommenden Reich dessen, zu dem gebetet wird, hat es stets eine unüberbietbare Alternative vor Augen und im Herzen.

Beten kann jede und jeder zu allen Zeiten

Und gerade deshalb fällt es schon gar nicht auf Ideologen der Angst herein, die eine »Alternative« für Deutschland und sogar die Verteidiger des christlichen Abendlandes zu sein beanspruchen, dabei aber den Notleidenden, den Hungernden, den Flüchtlingen die barmherzige Hilfe versagen wollen – Flüchtlinge, wie dem Matthäusevangelium zufolge auch derjenige einer war, der seine Schülerinnen und Schüler zu beten lehrte: Jesus floh nach Ägypten …(vergleiche Matthäus 2,13-15). Wer das Vaterunser aufrichtig betet, wird selbstgerechte, unbarmherzige Parteien wie die AfD oder die NPD nicht wählen.

Beten kann jede und jeder zu allen Zeiten. Man braucht auch nichts auswendig zu lernen. Beten ist kein Glaubensbekenntnis, das auf bestimmte Formulierungen angewiesen ist. Ein unartikuliertes Seufzen genügt, wenn es nicht um sich selbst kreist, eine heile Welt nicht nur für sich und die Seinen will und Rettung nicht vom Wahn der Machbarkeit erwartet.

»Ach Gott« heißt der nächste Schritt des Betens, das sich mit all seinem Weh und Wünschen an ein nicht dinghaftes personal vorgestelltes Außen wendet, das ihm aber gerade dieses ausdrucksvolle »Ach« überhaupt erst ermöglicht, weil diese ganz andere Person, die wir Gott nennen, jederzeit angerufen werden kann – auch von allen, die kein Smartphone besitzen. Gott hört zu, lässt mit sich reden, lässt sich bitten, gleichgültig wann, wo und von wem auch immer.

Das Vaterunser als Gebetsschule

Genau das lehrt Jesus alle, die von ihm lernen möchten: Gott ist nicht allein der Gott der Juden, der Gott der Römer, der US-Amerikaner, der Ungarn oder der Deutschen. Er ist nicht allein der Gott der Christen. Er ist der Gott aller, und deshalb gehen ihn alle an. Jede und jeder kann den Gott des Vaterunsers um alles bitten, nur um eines nicht: irgendjemandem Schaden zuzufügen. Das unterscheidet ihn maßgeblich von den Göttern der Griechen, der Römer, der Germanen, und nicht zuletzt unterscheidet ihn das von dem Börsengott Mammon.

Wenn Christinnen und Christen das Vaterunser beten und mit dem Fürwort »unser« nur sich selbst meinen, machen sie sich der Blasphemie schuldig. Sie machen aus dem Schöpfer und Bewahrer allen Lebens ihren Götzen und begehen Kriege, Unterdrückung, Ausbeutung, Ausgrenzung in seinem Namen. Oder sie machen aus ihm einen lächerlichen Popanz, eine (sozial)psychologisch oder konstruktivistisch erklärbare Einbildung, wenn sie das Vaterunser beten und Flüchtlinge im Mittelmeer und anderswo ertrinken, Kinder und Erwachsene verhungern oder in erbarmungsloser Armut dahinvegetieren lassen. Vergib uns Christinnen und Christen unsere Schuld am Elend dieser Welt, wie auch wir …?

Das Vaterunser schenkt den Betenden einen liebe-, vertrauens- und zukunftsvollen Blick auf Gott und die Welt – und auch auf sich selbst. Es sprengt die engen empirischen und politischen Grenzen von Raum und Zeit. Es sprengt erst Recht die Grenzen zwischen Juden, wie Jesus von Nazareth einer war, und allen anderen Völkern. Wer mit ideologischen kollektiven Identitäten wie etwa »das christliche Abendland« oder auch »wir Christen« anderen – nämlich denen, die nicht dazugehören – Schaden zufügt, denkt nicht an Gott, den Vater unser, lebt nicht den umdenkenden Glauben an das Evangelium mit seiner zukunftsweisenden Hoffnung auf das Reich Gottes, tritt nicht für die Heiligung des Namens Gottes ein, sondern dient dem Teufel, der bekanntlich auch Heilige Schriften zitiert (vergleiche Matthäus 4,1-11).

Beten kann jede und jeder mit Seufzen, Tanzen, Singen, mit spontan formulierten Gebeten wie auch mit geprägten Texten. Das Vaterunser ist aber aufgrund seiner theologischen Qualität mehr als nur ein Gebet unter vielen. Es ist eine Gebetsschule, der Maßstab aufrichtiger Frömmigkeit und hoffnungsgewissen Gottvertrauens. Gerade deshalb lohnt es sich, dieses Gebet auswendig zu lernen, um es immer dabei zu haben.

Die spezifisch christliche Perspektive des Vaterunsers

Es ist von seinem Inhalt und seiner Sprache her kein ausschließlich christliches Gebet. Religionsgeschichtlich betrachtet steht es in großer Nähe zu anderen antiken jüdischen Gebeten. Das ist freilich kein Zufall, denn bei aller notwendigen historisch-kritischen Vorsicht geht dieses Gebet wohl auf den Juden Jesus von Nazareth zurück, der es aber Aramäisch gebetet haben wird.

In der Bibel findet es sich in zwei verschiedenen Fassungen im Matthäusevangelium (Matthäus 6,5-15) und im Lukasevangelium (Lukas 11,1-4). Eine Langform ist in einer apokryphen Schrift zu finden, der sogenannten Didache (Didache 8,2 f.), die der Fassung des Matthäusevangeliums näher steht als der des Lukas. Diese verschiedenen Fassungen sind zwar unterschiedlich und geben durch ihren Kontext auch durchaus verschiedene Impulse des Verstehens. Sie widersprechen sich aber in den grundlegenden Einsichten dieses Gebetes nicht.

Das Vaterunser kann aber nicht nur aus der Perspektive christlichen Glaubens gebetet werden. Erst der Kontext der Evangelien und der Didache macht aus dem Vaterunser ein christliches Gebet. Die spezifisch christliche Perspektive entsteht, wenn Jesus von Nazareth nicht nur als jüdischer Mensch oder Prophet wahrgenommen wird, sondern als derjenige, der sein Gottvertrauen auch angesichts des Kreuzes nicht verloren hat und noch am Kreuz Gott anruft.

Wäre der Tod Jesu das Ende der Jesusgeschichte, gäbe es keine Evangelien, gäbe es keine Bibel, gäbe es keinen christlichen Glauben und wahrscheinlich wäre sein Gebet nicht aufgeschrieben worden. Erst die Überzeugung, dass der Gott, zu dem Jesus, der Jude, betete, der barmherzige und schöpfungsmächtige Gott aller Menschen ist, der Jesus als seinen Christus in sein eigenes göttliches Leben hinein auferweckt und verwandelt hat, führt zu einer spezifisch christlichen Perspektive auf Gott und die Welt.

Ein Gebet für alle

Wenn Christinnen und Christen das Vaterunser sprechen, beten sie zu dem barmherzigen Allherrscher, dem Pantokrator, der sich mit dem Opfer menschlicher Gewalt am Kreuz so sehr identifiziert hat, dass sein Tod und sein Leben zu Gottes eigener Angelegenheit geworden sind. Darin sollten sich Christinnen und Christen aller Konfessionen einig sein. Nur aus der spezifisch christlichen Perspektive der Auferweckung des gekreuzigten Jesus von Nazareth ist das Vaterunser das Gebet der Christenheit.

Aber Christinnen und Christen aller Konfessionen und Nationen sollten endlich damit aufhören, Gott und Jesus und die Bibel für ihren Besitz zu halten. Gott, Jesus Christus und auch die Bibel gehören nicht den Christinnen und Christen und auch nicht einer christlichen Kirche und erst recht nicht irgendeiner Region dieser Erde.

Dasselbe gilt für das Vaterunser. Es ist ein Gebet für alle, die das Gefühl nicht loswerden, dass die Welt, in der wir leben, dass das Leben selbst wunderbare Gabe ist und dieses Gefühl nur mit der Annahme eines barmherzigen, schöpfungsmächtigen und schöpfungswilligen Gegenübers plausibel erklärt werden kann und nicht mit einer Mechanik abstruser Zufälle. Gottes gütiger, gerechter und kreativer Wille geschah, geschieht und geschehe.

Diesem Gefühl, diesem Wissen um den Zusammenhang der ganzen Welt, des Kosmos verleiht das Vaterunser Ausdruck. Beten macht klug. Beten kann jede und jeder mit dem Vaterunser (lernen): »Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.« Amen.

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Zum Autor

Dr. Stefan Alkier ist Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt. Zur Zeit arbeitet er zusammen mit dem Gräzisten Thomas Paulsen an einer philologisch orientierten Neuübersetzung des Neuen Testament.

Er hat zudem "Die Nacht der Bibel" konzipiert, die in 90 Minuten den Erzählfaden der Bibel von Schöpfung bis Neuschöpfung darstellt. Die Nacht der Bibel wurde auch als Hörbuch veröffentlicht und kann bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erworben werden.

Zur Nacht der Bibel

Eine Fülle von biblischen Groß- und Kleinsterzählungen stellen die Geschichte des Schöpfers mit seinen Geschöpfen dar als eine Geschichte, die neu zu denken ermöglicht. Vom ersten Buch Mose bis zur Johannesapokalypse, von der Schöpfung bis zur Neu-Schöpfung kommen grundlegende Texte der ganzen Schrift zur Sprache, die erzählen, was bisher geschah und was man noch getrost erwarten kann. Stefan Alkier, Professor für Neues Testament am Fachbereich für Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, hat die Nacht der Bibel entworfen, die den Zusammenhang der biblischen Bücher des Alten und Neuen Testaments als große Erzählung erschließt.

Die durch die Verknüpfung ausgewählter Bibeltexte entstehenden Erzählsequenzen werden musikalisch interpretiert von dem Trio „Echoes of Scripture“, das eigens für die Nacht der Bibel gegründet wurde (Thomas Alkier, Schlagzeug; Walfried Böcker, Kontrabass; Stefan Alkier, Gitarre) Thomas Alkier ist Professor für Schlagzeug und Rhythm Section Training der Folkwang-Universität Essen und einer der renommiertesten Schlagzeuger Europas. Walfried Böcker ist seit Jahrzehnten eine treibende Kraft in der deutschen Jazzszene. Das Trio spielt Eigenkompositionen, die mit den biblischen Erzählsequenzen interagieren.

Die sprachliche Vielfalt der Bibel findet ihren Niederschlag in den unterschiedlichen Bibelübersetzungen von Luther, Neuer Zürcher, Buber/ Rosenzweig, Kinderbibeln u.a. Die aus Film und Fernsehen bekannten Schauspieler Barbara Auer und Peter Lohmeyer bringen die Bibel mit Hilfe dieser Übersetzungen als ein Gesamtwerk neu zum Sprechen. Peter Schröder vom Frankfurter Schauspielhaus verbindet und kommentiert die biblischen Texte mittels von Stefan Alkier verfasster Passagen. Durch den so wahrnehmbaren Zusammenhang werden neue Wege des Hörens und Verstehens biblischer Geschichten eröffnet. Die Musik gibt Raum zum Nachsinnen und ganz eigenen Assoziationen.

Die Nacht der Bibel wurde mit großem Erfolg erstmals 2014 in Frankfurt am Main anlässlich des 100jährigen Jubiläums der Goethe-Universität aufgeführt in Zusammenarbeit des Fachbereichs Evangelische Theologie und der Stiftung der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau und seitdem u.a. in Bochum, Düsseldorf und Wien aufgeführt.

Seit April ist die Musik der Nacht der Bibel auf CD zu hören: Echoes of Scripture – Reverberation. Musik zur Nacht der Bibel und im August 2017 erschien auch das Hörbuch: Nacht der Bibel. Biblische Erzählsequenzen in Wort und Klang, gelesen von Barbara Auer, Peter Lohmeyer und Peter Schröder. Auch auf dem Hörbuch sind einige Titel der Musik von Echoes of Scripture zu hören, allerdings in stark gekürzter Version. Beide CDs sind beziehbar per Mail:

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Ferdinand Schöningh

Die Apokalypse des Johannes

Neu übersetzt und herausgegeben von Stefan Alkier und Thomas Paulsen

Diese neue Übersetzung führt die Fachkompetenzen eines Theologen und eines Klassischen Philologen zusammen und eröffnet damit eine neue Perspektive auf die Offenbarung des Johannes jenseits kirchlich-konfessioneller Hörgewohnheiten. Der Text der Johannesapokalypse wird in zwei Fassungen geboten:

Während die Lesefassung die Übersetzung als Fließtext ohne Unterbrechung durch die Vers- und Kapiteleinteilungen präsentiert, bietet die Studienfassung die Zählungen der Verse und Kapitel, um so einen Vergleich mit dem Original und anderen Übersetzungen zu ermöglichen. Die Abfolge beider Fassungen
macht nicht allein die ästhetische und theologische Sprachkraft dieses hochberühmten letzten Buches der Bibel auf ungewohnte Weise lesbar, sondern führt zu zahlreichen überraschenden Erkenntnissen über die sprachliche Gestaltung und den Sinngehalt dieses äußerst komplexen Textes. Der Übersetzung beigegeben
sind eine Einführung mit Erläuterung der Übersetzungsprinzipien, ein Epilog, in dem zentrale Interpretationsansätze vorgeführt werden und ein Glossar mit den markantesten semantischen
Entscheidungen, das sich nicht an späteren kirchlichen Traditionen, sondern am Koine-Griechisch des 1. Jh. n. Chr. orientiert.

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