Vaterunser als Gebetsformular
Von Michael Heymel aus "Impuls Gemeinde 2/2007 - Beten"
Das Vaterunser ist ein Gebetsformular, das für unser ganzes Beten maßgebend sein will. Wenn Jesus sagt: „So sollt ihr beten“ (Matthäus 6,9), heißt das nicht, dass wir lediglich an den Wortlaut gebunden sind und immer nur in dieser Form beten sollen. Jesus lehrt nicht nur, mit welchen Worten, sondern wie wir überhaupt beten sollen. Aus der Gliederung lässt sich ersehen, was Jesus beim Beten wichtig ist:
- Anrede
- Drei Du-Bitten
- Drei Wir-Bitten
- Lobpreis
Als Christen nehmen wir wichtig, was Jesus wichtig ist. Wenn wir das Vaterunser in seiner inneren Logik meditieren, ergeben sich daraus Schrittfolge und Rangordnung für unser ganzes Beten: zuerst die Sache Gottes wahrnehmen, dann und von da aus die Sache des Menschen, das, was unser Leben mit anderen Menschen betrifft!
Unser Vater
Wir dürfen zu Gott kommen als geliebte Söhne und Töchter eines liebenden Vaters, als seine Erben und Mitarbeiter. Jesus bringt uns diesen Vater nahe. Er sagt zu Gott Abba (Vater) – so wie Kinder es tun. Diese Gotteskindschaft hat für ihn ein endzeitliches Ziel: vollkommen zu sein wie unser himmlischer Vater (Matthäus 5,48) bzw. barmherzig zu sein wie unser Vater (Lukas 6,36). Jesus ermutigt uns, zu Gott einfach ‚Vater’ zu sagen. Aber er stellt sich dabei nie auf eine Stufe mit uns! Er unterscheidet sehr genau zwischen ‚meinem Vater’ und ‚eurem Vater’. Nur durch den Sohn haben wir teil an seiner Beziehung zum Vater. Er allein offenbart uns seinen Vater als unseren Vater. Unser Vater ist – anders als alle irdischen Väter – im Himmel, über uns. Er ist überall auf der Erde uns über – und zugleich ganz nahe, ansprechbar. Im Angesicht Jesu bekommt Gott sein väterliches Gesicht (Johannes 14,9). Wer zu Ihm betet, wer sich bewusst wird, vor wem er steht, begegnet einer Autorität, die freilässt. Sie gibt uns Freiheit, knechtenden Mächten und Gewalten zu widerstehen. Sie erlaubt uns, als Kinder Gottes uns selbst zu finden und zu wachsen. Sie eröffnet uns Möglichkeiten, die über unsere Vorstellungen hinausgehen, und verwandelt Fatalismus in Vertrauen. Denen, die Gott als unseren Vater lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen (Römer 8,28).
Geheiligt werde dein Name
Die Bitte bewahrt unser Beten vor plumper Vertraulichkeit. Wir bekennen, dass Gott der ganz Andere, der Heilige ist. Keine andere Bitte des Vaterunser ist so tief im Judentum verwurzelt wie diejenige um Heiligung des Gottesnamens (keduscha haSchem). Die Heiligung geschieht durch den Lobpreis Gottes und durch das Leben nach Seinen Geboten. Unser Beten wird so in drei Richtungen gelenkt:
a) Wo geben wir Gott Raum?
b) Wann geben wir Ihm Zeit?
c) Sind wir bereit, Ihm nicht nur etwas von uns, sondern uns selbst zu geben?
Dein Reich komme
Erwarten wir wirklich das Reich Gottes? Die Bitte will uns dazu bewegen! Wir bitten darum, dass Gottes Welt komme und die Mächte der gegenwärtigen Welt überwunden werden durch die Mächte der kommenden Welt: Gerechtigkeit, Leben, Gott. Das Kommen Seines Reiches bringt die Umkehrung der bestehenden Verhältnisse. Dietrich Bonhoeffer beginnt seine Auslegung mit dem Satz: „Wir sind Hinterweltler oder wir sind Säkularisten; das heißt aber, wir glauben nicht mehr an Gottes Reich.“ Damit sind zwei mögliche Irrwege benannt: auf dem ersten wird das Reich mit der Kirche identifiziert, auf dem zweiten mit der Welt. Worum bitten wir, wenn wir um das Kommen des Reiches bitten? Darum, dass Gott die Herrschaft über die Welt übernehme! Es geht um die Machtfrage, genauer: um die Frage, wie Macht ausgeübt wird (zuerst in der Kirche!). Wer um das Reich Gottes bittet, widersteht den Machtansprüchen der Herren dieser Welt und findet sich nicht mit ihnen ab.
Dein Wille geschehe
Wir bitten mit Jesus darum, dass Gottes Wille sich unter uns auf Erden ebenso durchsetzt wie im Himmel. Wohlgemerkt: was Er will, soll geschehen, nicht was wir wollen! In dieser Bitte wird ernstgenommen, was der Psalmbeter so ausdrückt: Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen (Psalm 24,1). Darin steckt wie in der zweiten Bitte ein Politikum: nicht die Regierenden, die sich als die Herren der Welt gebärden, sollen ihren Willen durchsetzen, sondern der Wille Gottes soll geschehen.
Unser täglich Brot gib uns heute
Jesus lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das, was wir heute zum Leben brauchen. Wir vertrauen es dem Vater an, der weiß, was ihr bedürft (Matthäus 6,8.32), dass uns das Lebensnotwendige gegeben wird. Was die Erde uns gibt, nehmen wir als Gabe des Vaters wahr.
Vergib uns unsere Schuld
Diese Bitte scheint mit einem Gelöbnis verbunden zu sein: wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Doch präzis muss man übersetzen: wie auch wir vergeben haben. Wir sprechen als Menschen, die selbst schon einmal vergeben haben. Wir bitten Gott also, uns zu gewähren, was wir andern schon gewährt haben. Jesu Gleichnis von jenem Knecht (Matthäus 18,2135), der vom Erbarmen seines Herrn lebt, aber selber einem andern gegenüber nicht zur Vergebung bereit ist, führt uns vor Augen, dass wir Gottes Vergebung verspielen, wenn wir einander nicht vergeben.
Führe uns nicht in Versuchung
Hier geht es nicht um einen Test oder eine Erprobung. Wir bitten darum, in alltäglichen Situationen nicht dem Bösen ausgesetzt zu sein. Das ist die Bitte, vor einer Situation bewahrt zu werden, in der wir versucht sind, uns auf nichts anderes als die eigene Stärke zu verlassen. Die Bitte bewegt uns dazu, uns auch im Kampf gegen das Böse auf Gott zu verlassen und nicht auf uns selbst.
Dein ist das Reich
Der Lobpreis macht deutlich: Alles, worum wir Gott bitten, bleibt etwas Vorläufiges und Vorletztes. Es kann nur unter dem Vorbehalt erbeten werden, dass letztlich Er selbst dafür sorgt, dass Sein Reich kommt und alles in Seiner Kraft und zu Seinem Glanz geschieht. Was Gott allein zukommt, können weder wir noch andere Menschen und Mächte herbeiführen. Wenn wir in diesen Lobpreis einstimmen, geben wir sozusagen das Szepter aus der Hand.
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