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Beten mit dem Vaterunser

Von Klaus Douglas, Direktor der kirchlichen Zukunftswerkstatt „mi-di“ bei der Diakonie Berlin aus Beten - ein Selbstversuch

Martin Luther hat einmal gesagt, er habe es in seinem ganzen Leben nicht geschafft, auch nur ein einziges Vaterunser mit Sinn und Verstand zu sprechen. Diese Aussage erstaunt umso mehr, als er das Vaterunser zeit seines Lebens mehrmals täglich gebetet hat. Ich selbst bete das Vaterunser keineswegs täglich. Um ehrlich zu sein: In meiner persönlichen Frömmigkeitspraxis nimmt das Vaterunser relativ wenig Raum ein. Das war mal anders, aber es wurde mir auf Dauer zu mechanisch. Seither ist das Vaterunser für mich in erster Linie ein Gebet, das ich mit anderen Menschen zusammen spreche, vor allem natürlich im Gottesdienst, aber auch bei anderen Gelegenheiten, wenn Christen zusammenkommen und miteinander beten.

Martin Luther hat es also nicht geschafft, auch nur ein einziges Vaterunser konzentriert zu Ende zu beten? Hatte der Mann Konzentrationsstörungen, oder was? Sorry, aber das kann doch nicht das Problem sein! Schließlich bin ich kein Amateur. Das wird heute eine kurze Übung.

Mist. Irgendwo muss ich abgeschweift sein. Es war, glaube ich, bei der Stelle mit dem täglichen Brot. Im Moment habe ich zehn Kilo Übergewicht. Um was genau bete ich da? Eigentlich müsste ich sagen: „Das Letzte, was ich im Moment brauche, sind Kohlenhydrate.“ Meine Gedanken kreisen noch um diesen Themenbereich, als meine Lippen schon längst „Führe uns nicht in Versuchung“ murmeln. ...

Jetzt helfe ich mir mit einem Trick - mit Gebetsgebärden

Mann, das ist doch ganz schön anstrengend. Und ich fange an, vor Martin Luther, den ich eben noch für einen Stümper gehalten habe, Abbitte zu tun. Aber jetzt helfe ich mir mit einem Trick. Vor Jahren habe ich mal eine tolle Art kennengelernt, das Vaterunser zu beten. Mit Gebetsgebärden, die gleichzeitig als Konzentrationshilfe fungieren. Mal gucken, ob ich das noch zusammenkriege.

  • Bei „Vater unser“ kreuze ich die Arme über der Brust. Das fühlt sich warm und gut an.
  • Bei „Geheiligt werde dein Name“ beuge ich mich und öffne ehrfürchtig die Arme. Auch hier „stimmt“ das Gefühl.
  • Bei „Dein Wille geschehe“ lege ich die Hände an die Stirn, wie als wolle ich mich konzentrieren, was dieser Wille ist.
  • Beim „täglichen Brot“ öffne ich die Hände zu einer Schale. (Pfeif auf das Überwicht!)
  • „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern“: Ich schlage die Hände schamhaft vors Gesicht und öffne sie dann seitlich, wie um den an mir schuldig Gewordenen in die Arme zu nehmen.
  • „Und führe uns nicht in Versuchung“ – beide Arme und Hände beschreiben eine abwehrende Geste –, „sondern erlöse uns von dem Bösen“ (Arme und Hände wischen nach beiden Seiten das störende Böse weg).
  • Das Tollste ist der Schluss. „Denn dein (die Arme weisen nach vorne) ist das Reich (die Arme gehen zur Seite) und die Kraft (die Arme werden auf Schulterhöhe gehoben, der Bizeps dabei angespannt) und die Herrlichkeit (die Arme weisen nach oben) in Ewigkeit (die Arme werden in kreisförmiger Gebärde seitlich herabgeführt, bis sie locker am Körper anliegen). AMEN (die Hände werden gefaltet).“


Grandios, oder? Ich kann’s noch! Und der alte Zauber ist noch da. Ich bin ganz verzückt. Aber haben Sie was gemerkt? Ich habe „Dein Reich komme“ vergessen – oh nein! Also noch einmal zurück auf Los!

Der gute alte Luther hatte offensichtlich recht. Ich will nicht sagen, dass es unmöglich ist, ein Vaterunser konzentriert mit Sinn und Verstand zu beten. Aber es ist schon verdammt schwer. Herkules, der zwölf übermenschliche Aufgaben mit Bravour löste, hätte hier seine Probleme gehabt. Luther hat es zeit seines Lebens nicht geschafft. Ich in den letzten 20 Minuten auch nicht. Obwohl ich sicherlich nicht ganz so hohe Anforderungen an diese Übung hatte wie er. Und eigentlich immer noch denke, dass es möglich müsste, dieses Level zu knacken. Zumindest solange man – wie ich – im Anfängermodus spielt.

Vielleicht fragen Sie sich: „Warum macht der Typ sich so einen Stress? Bete einmal die Worte des Vaterunsers, und gut ist’s, oder? Kein Mensch verlangt, dass er sich dazu groß Gedanken macht.“ Stimmt. Oder vielleicht doch nicht? Jesus hat seine Jüngerinnen und Jünger niemals aufgefordert, das Vaterunser zu sprechen. Vielleicht erstaunt Sie das. Er sagte nicht: „Das sollt ihr beten“, sondern: „So sollt ihr beten.“ Nennen Sie mich einen Erbsenzähler, aber das ist – wie ich finde – ein himmelweiter Unterschied. Es geht nicht darum, den immer gleichen Wortlaut zu rezitieren, sondern sich von dem Wortlaut des Vaterunsers zum eigenen Gebet anleiten zu lassen. Entsprechend finden sich in der Bibel zwei Versionen des Vaterunsers. Das belegt meine Theorie, dass es nicht um den Wortlaut geht. Und das „Dein ist das Reich und die Kraft usw.“ findet sich in den Urfassungen der Bibel überhaupt nicht, sondern wurde dem Vaterunser erst später von der syrischen Kirche hinzufügt. Wenn es um die korrekte Wiedergabe der Wort Jesu ginge, wäre dies ein Sakrileg. Wenn es aber darum geht, sich durch das Beten Jesu zu eigenem Beten anleiten zu lassen, ist dieser Zusatz völlig sachgemäß.

Jesus wollte uns das Beten lehren

Meine Theorie ist also die: Jesus wollte uns mit dem Vaterunser nicht ein Gebet lehren, sondern er wollte uns das Beten lehren: „So, wie ich es hier tue, so sollt ihr beten. Auf die gleichen Dinge achten, auf die ich beim Beten achte: darauf, dass Gott in dieser Welt etwas mehr zu Gott und ihr etwas mehr zu Menschen werdet – diese Anliegen sollen auch wichtig sein in eurem Beten und Handeln. Und vor allem dürft ihr Gott als einen liebenden Vater ansprechen, zu dem ihr Vertrauen haben könnt und bei dem alle eure Anliegen gut aufgehoben sind.“ Vielleicht sollten wir uns also doch Gedanken machen.

Natürlich müssen die Worte des Vaterunsers von Generation zu Generation überliefert werden, damit wir uns von ihnen zum Beten anleiten lassen können. Das heißt: Wir müssen die Worte Jesu immer wieder mal nachbeten. Aber wir verfehlen das, was Jesus mit dem Vaterunser bewirken wollte, bereits im Ansatz, wenn wir uns damit begnügen, seine Worte lediglich zu rezitieren. Ich glaube, Martin Luther ist dem ursprünglichen Sinn des Vaterunsers ziemlich nah gekommen, als er empfahl, jede einzelne Zeile dieses Gebets immer aufs Neue zu wiederholen und wiederzukäuen, sie gedanklich zu drehen und zu wenden, bis sich einem der Sinn wie von selbst erschließe und man zur nächsten Zeile übergehen könne. Das ist ein höheres Level des Spiels. Mit meiner heutigen Übung bin ich auf Level 1 geblieben. Ich hab’s zwar nie ganz geschafft, bin aber trotzdem recht stolz auf das Ergebnis. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich den Eindruck, ein Vaterunser mit Sinn und Verstand gebetet zu haben.

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Das Vaterunser

Vater unser im Himmel,
geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.

Anleitung zum Beten

Schritt für Schritt finden Sie die einzelnen Gebärden zum Vaterunser. Hier können Sie sich eine Version für Ihren Gottesdienst oder Ihre Veranstaltung herunterladen.

Zum Download (Web-Version)

Zum Download (Print-Version)

 

 

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