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Abendsingen

Von Heinke Willms, Pfarrerin am Haus der Stille Gnadenthal

© GettyImages / Lanny Ziering

Als am Abend die Glocken läuten, öffne ich die Haustür. Ich stelle den Notenständer in den Hauseingang und nehme die Trompete zur Hand. Unsere Nachbarin wartet schon am Gartentor, auch sie hat ihre Trompete dabei.  

„Womit wollen wir heute anfangen?“ fragt sie, als das Läuten ausklingt. „Meine Hoffnung und meine Freude …“, schlage ich vor. Dann geht es los. Wie an jedem Abend spielen wir zweistimmig Lieder aus dem Gesangbuch.

Gegenüber im Garten hören andere Nachbarn zu. Sie haben eine Kerze auf ihre Mauer gestellt und stehen zu fünft im Garten: Oma, Mutter und die drei Kinder. Zwischen den Liedern winken wir einander zu.

Auf dem Bürgersteig hält im nötigen Abstand ein Vater mit seiner Tochter inne, auf der anderen Straßenseite singt eine Frau aus dem Kirchenchor mit.

Vier oder fünf Lieder spielen und singen wir, zum Schluss ein Abendlied. Meistens ist es „Der Mond ist aufgegangen“. Heute aber sind einige Kinder da, darum entscheiden wir uns für „Weißt Du wieviel Sternlein stehen“.

Entstanden ist unser kleines Abendständchen aus der Aktion „Balkonsingen“. Zu Beginn der Coronakrise hatte die EKD dazu aufgerufen, abends um 19.00 Uhr hinaus auf die Balkone zu gehen und „Der Mond ist aufgegangen“ zu singen. Denn „Singen verbindet“, hatte sie ihrem Aufruf hinzugefügt. An manchen Orten ist ein Ritual daraus geworden.

Solche  Rituale tun gut. Sie greifen auf Vertrautes zurück und sie sind verläßlich. So geben sie Halt und Struktur - jetzt in dieser Krise, die täglich so viele Veränderungen und oft auch Sorgen mit sich bringt.

Bei uns ist aus dem Balkonsingen ein kleines musikalisches Stundengebet geworden. Katholische und evangelische Christen, alevitische Muslime und Menschen ohne Konfessionszugehörigkeit bilden den Kern, andere kommen hin und wieder zu unserer kleinen Nachbarschaftsgemeinde dazu.

An jedem Abend spielen und singen wir unsere Wünsche füreinander und für die Welt Gott entgegen. Um Vertrauen und Segen bitten wir, um Frieden, Heilung und um eine gute Nacht.

Nach dem Musizieren reden wir noch ein bisschen. „Wie war Euer Tag?“ oder „Alles o.k.?“ rufen wir einander zu. Ein Nachbarsmädchen erzählt von den vielen Schulaufgaben, die ihre Lehrerin heute geschickt hat. Ihr Bruder zeigt sein Pflaster am Fuß.

Als ich schließlich zurück ins Haus gehe, begleiten mich die Texte und Melodien. Leise singe ich vor mich hin: „…bewahre uns Gott, behüte uns Gott, sei mit uns auf unsern Wegen, sei Quelle und Brot in Wüsternot, sei um uns mit deinem Segen“ .

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